Belarus

"Wir haben keine Angst" / Interview mit Nikolaj Chalezin vom Freien Theater Belarus

ostpol: Im Moment findet der Internationale Wettbewerb für das Moderne Drama in Minsk statt, der vom „Freien Theater“ organisiert wird. Gibt es spezifische Themen bei den eingereichten belarussischen Stücken?

Nikolaj Chalezin: Der Wettbewerb findet zum fünften Mal statt, und in jedem Jahr haben wir mehr Teilnehmer. In diesem Jahr hatten wir 390 eingereichte Stücke aus zwölf Nationen, u.a. aus Bulgarien, Belarus, aus der Ukraine, Russland, aus Polen oder den USA.

Belarussische Autoren nähern sich eher den europäischen Drama-Traditionen an als den post-sowjetischen. Sie neigen zu einer eingehenden Analyse, was manchmal zu Lasten der Emotion geht. Unter den belarussischen Stücken, die ich gelesen habe, eine gemeinsame thematische Linie zu erkennen, fällt mir schwer. Man könnte aber von einem gewaltigen Schub belarussischer Autoren sprechen, die sich bemühen, neue Themen für das Drama zu entdecken.

Man kann wohl davon ausgehen, dass der Wettbewerb nicht vom belarussischen Staat unterstützt wird...

Chalezin: Der Wettbewerb existiert im fünften Jahr. Deswegen hat er seine Strukturen, die recht reibungslos funktionieren. Der Wettbewerb wurde in keinem Jahr von staatlicher Seite unterstützt. Die Hindernisse, die man uns in den Weg legt und die unsere Arbeit erschweren, sind häufig indirekter Natur. Man versucht unsere internationalen Aktivitäten zu unterbinden. Unsere Produktionen dürfen nicht öffentlich aufgeführt werden. Zudem gibt es eine Art inoffizielles Verbot, unserem Theater Räume zu vermieten. So muss man sich eine Menge Tricks ausdenken, um einen Raum zu finden, in dem beispielsweise auch die Preisverleihung für den Wettbewerb stattfinden kann.

Haben sich die Repressionen gegenüber Ihrem Theater in letzter Zeit verändert? Gerade bezüglich der belarussischen Musikszene beispielsweise gibt es ja eine Art Liberalisierung von staatlicher Seite.

Chalezin: Die Machthaber haben verstanden, dass die Musikszene auf den belarussischen Markt zielt und keine Bedrohung für das Regime darstellt. Deshalb hat man ihr ein freies, wenn auch in gewisser Hinsicht begrenztes Feld überlassen. Im selben Moment hat man aber Bedingungen modelliert, unter denen es unmöglich ist, Konzerte ohne jegliche staatliche Unterstützung oder Erlaubnis zu organisieren. So sind selbst führende belarussische Bands nicht in der Lage, mehr als zwei oder drei Konzerte im Jahr zu geben. Das belarussische Regime hat nach über 15 Jahren an der Macht gelernt, Freischaffende und Kreative daran zu hindern, einflussreiche liberale Räume zu schaffen. Ähnlich ist es mit der unabhängigen Presse: Ja, mittlerweile dürfen einige kritische Blätter wieder erscheinen. Aber die eigentliche Macht hat das staatliche Distributionsnetz, das Publikationen behindern kann, zu große Auflagen zu erreichen. Und auch unsere Situation hat sich nicht geändert: wir können unser Theater nicht registrieren, wir dürfen keine Räume anmieten und wir dürfen nicht öffentlich aufführen.

Warum fürchtet sich das Regime vor einem Avantgarde-Theater, was nicht sehr viele Zuschauer hat?

Nikolaj Chalezin: Die Mechanismen des Theaters unterscheiden sich radikal von denen der Musik. Das Theater beschäftigt sich mit aktueller Kunst und ist in der Lage, eine öffentliche Debatte zu evozieren. Ein politisches oder soziales Problem, das über den Journalismus in das Feld der Kunst injiziert wird, kann wiederholt Aufmerksamkeit auf sich lenken. Davor fürchten sich die Machthaber. Angenommen, unserem „Freien Theater“ würde man den Zugang zum öffentlichen Raum erlauben, dann würden in nächsten Schritt Rezensionen in staatlichen Medien erscheinen. Voherzusagen, welche Folgen dies für den Staat hätte, ist kaum möglich, vor allem wenn man bedenkt, dass das Publikum unseres Theaters zu 90 Prozent aus Zwanzig- bis Dreißigjährigen besteht.

Wenn die Wirklichkeit, wie eben in Belarus, wesentlich dramatischer ist, als sich das ein Regisseur womöglich ausdenken könnte - inspiriert oder stört Sie dies als Regisseur?

Chalezin: Wir beschäftigen uns mit aktuellem Theater, und unsere Theater-Wirklichkeit strebt nach der absoluten Übereinstimmung mit dem, was im Leben passiert. In den vergangenen drei Jahren haben wir Inszenierungen geschaffen, die auf dem persönlichen Stoff und den Geschichten unserer Ensemblemitglieder beruhen. Dies ist einer der kardinalen Momente, der uns von anderen europäischen Ensembles unterscheidet – die Stoffe, auf denen unsere Inszenierungen basieren, sehen Sie auf keiner anderen Bühne auf der Welt. Nach unserer Überzeugung teilt sich der wesentliche Trend im zeitgenössischen Film und Theater hinsichtlich seines szenarisch-dramaturgischen Stoffes in zwei Lager: in das dokumentarische und das erzählende. Wir gehören dem ersten Lager an – wir leben von der Wirklichkeit.

Sie haben einmal gesagt, dass das „Freie Theater“ hinsichtlich seines damaturgischen Kanons kein politisches Projekt sei. Wie meinen Sie das?

Chalezin: Das „Freie Theater“ lässt sich hinsichtlich des klassischen Brechtschen Kanons nur schwerlich als „politisches Theater“ qualifizieren. Wir machen aktuelles Theater. Das bedeutet, dass der politische Aspekt nur eine Schattierung in einem breiten Themen-Spektrum ist. Unsere theatralische Analyse ist offen für jedes beliebige Thema – sei es politisch, sozial oder moralisch. Der größte Unterschied zu anderen Theatern liegt wohl darin, dass wir keine Angst vor dem Wort „Politik“ haben und sie mit großem Vergnügen als einen der wichtigsten Aspekte des menschlichen Lebens aufbereiten. Aber mit demselben Ziel analysieren wir auch Themen wie Einsamkeit, Religion oder Familienwerte.

Sie sind das einzige experimentell-avangardistische Theater in Belarus. Wie wird Ihre Arbeit von den offiziellen Theatermachern, von Schauspielern und Regisseuren aufgenommen? Was denken Sie selbst von der Theaterkunst, die in Belarus weitläufig gepflegt wird?

Chalezin: Die Reaktionen sind sehr unterschiedlich – von offener Ablehnung bis hin zur Unterstützung erfahren wir alles. Alle unsere Schauspieler haben an führenden staatlichen Theatern gearbeitet, bis sie dort gefeuert wurden, eben weil sie auch bei uns arbeiten. Jeder hat noch Freunde und Bekannte im „offiziellen“ Theaterbetrieb – das heißt: dieser Kommunikationskanal ist nicht versiegt. Aber wir selbst entfernen uns immer mehr von der staatlichen Theaterwirklichkeit. Dies hat nichts mit Arroganz oder Neid zu tun, eher mit einem rein professionellen Nicht-Einverstandensein: traditionelles und aktuelles Theater zu vergleichen, das ist, als vergleiche man einen Elefanten mit einem Leopard – es gibt keine gemeinsamen Kriterien. Genauer gesagt gibt es nur eine Gemeinsamkeit: die Emotionalität.

Hat von den Schauspielern, die das „Freie Theater“ ausbildet, schon jemand den Sprung an eine europäische Bühne geschafft? Oder ist dies gar nicht das Ziel Ihres Projektes?

Chalezin: Wir haben begonnen, ein Theater-Studio aufzubauen, als wir gemerkt haben, dass die Schauspielausbildung, die in Belarus geboten wird, uns für unsere Anforderungen einfach nicht passt. In diesem Studio, das den Namen „Fortinbras“ trägt, bilden wir Theaterspezialisten nur für uns aus. Wir geben keine Diplome und können unseren „Schülern“ auch nicht an andere Theatern empfehlen. Wir haben eine sehr harte Ausbildung entwickelt, die nur einer von sieben abschließt. In anderthalb Jahren seit Gründung des Studios haben wir 30 Leute kommen und gehen sehen, geblieben sind fünf. Drei werden wir höchstens in unsere Theatergruppe integrieren können. In der ganzen Geschichte unseres Theater haben drei die Truppe verlassen, und zwei sind dazu gekommen. Der Prozess, eine eigene Theatersprache zu finden, engt die Auswahl der Schauspieler, die mit uns zusammen arbeiten können, erheblich ein. Deswegen laden wir auch manchmal internationale Schauspieler zur Zusammenarbeit ein: aus den USA, Australien oder Frankreich.

Das „Freie Theater“ hat sehr viel Aufmerksamkeit und Unterstützung im westlichen Europa erfahren, auch von Prominenten wie Vaclav Havel, Tom Stoppard und sogar Harold Pinter. Sind Sie nicht ein wenig müde, im Westen ständig als der belarussische Revolutionär wahrgenommen zu werden und damit in gewisser Weise das Klischee vom immerwährenden Kampf der belarussischen Opposition gegen das Lukaschenka-Regime zu manifestieren?

Chalezin: Mit den Jahren werden wir weniger im politischen Kontext wahrgenommen. Selbst in Ländern, in denen es früher genauso war wie bei uns heute, werden an uns immer weniger Fragen zu sozio-politischen Themen gestellt.  Inzwischen werden wir oft nach unserer Meinung über modernes Theater gefragt. Wir werden eingeladen, im Ausland an prestigeträchtigen Schulen zu unterrichten. In den vergangenen zwei Jahren haben wir in der Amsterdamer Schule DasArts unterrichtet, im Kalifornier Walt Disney-Institut der Künste und in französischen Schauspielschulen. Demnächst arbeiten wir in Italien, danach wieder in Frankreich und dann in den USA. Wir werden von den besten Bühnen der Welt eingeladen, was nur gelingt, wenn du Theaterproduktionen von höchster Güte anbietest - und nicht deine zivilgesellschaftliche Haltung. Der politische Kontext belastet uns nicht – er ist wichtig für uns, wie viele andere Kontexte auch. Er ist für uns ein Nervenkitzel der Gegenwart, der dazu gehört.

Man hört mitunter den Vorwurf, dass Sie Theater für Ausländer und den Westen machen und nicht für die Belarussen. Was sagen Sie dazu?

Chalezin: In Belarus spielen wir ungefähr genauso häufig wie im Ausland. Und so lange unser Theater existiert, war bei den Vorstellungen nie auch nur ein Platz frei. Um in Minsk einen kleinen Raum viermal die Woche vollzubekommen, reicht es, eine Stunde lange eine Annonce auf irgendeinem Blog zu veröffentlichen – und schon ist das Theater überfüllt. Wir sind stolz darauf, dass wir um die Welt touren und schon auf vier Kontinenten spielen konnten. Ich habe noch nie ein Ensemble getroffen, das Einladungen zu Gastspielen auf Weltbühnen ausgeschlagen hat. Das ist Nonsens!

Sie sind in Europa mittlerweile sehr bekannt. Wäre es nicht interessant für Sie, an einem europäischen Theater zu arbeiten?

Chalezin: Solche Vorschläge bekommen wir jeden Monat. Im Moment arbeiten wir an drei größeren Projekten, die wir in Ko-Produktion mit europäischen Theatern erstellen. Allerdings bemühen wir uns darum, dass daraus wirkliche Zusammenarbeiten werden und nicht nur Vertragsarbeiten an einem fremden Theater. Aus verschiedenen Gründen: Wir haben unser Theater nicht gegründet, damit es zum Trampolin für die Arbeit in anderen Theatern wird; zum Zweiten ist nicht jedes Theater in der Lage, uns Schauspieler zu stellen, die fähig wären, mit den Aufgaben fertig zu werden, die wir ihnen stellen. Deswegen haben wir nur ein solches Angebot bis dato angenommen – das des legendären Comedie Francaise-Schauspielers Andrzej Sewerin, der ab September dieses Jahres eines der führenden polnischen Theater leiten wird. Im nächsten Winter werden wir dort gemeinsam mit Wladimir Scherban ein Stück inszenieren, das auf einem belarussischem Stoff basieren wird.

Sie haben angekündigt, dass Ihr Theater-Projekt in dem Moment vorbei sein wer, in dem Belarus einen demokratischen Weg einschlagen werde. Das könnte noch lange dauern.

Chalezin: Das ist ein altes Statement. Das Projekt wird leben, solange wir kreativ sind. Die Zeiten ändern sich und wir ändern uns mit ihnen.


Website des "Freien Theaters" (engl.)
Artikel zum Freien Theater: Office for a Democratic Belarus (Brussels): To be free or not to be (engl.)


Weitere Artikel