Ukraine

„Die nächste Revolution wird besser“ / Interview mit dem Ukrainer Intellektuellen Mykola Rjabtschuk

Ostpol: Wie macht sich Wiktor Janukowytsch als Ukrainischer Präsident?

Rjabtschuk: Er setzt die alte post-sowjetische Tradition fort, eher mit den Regeln als nach den Regeln zu spielen. Der wesentliche Unterschied zwischen ihm und seinen Vorgängern ist, dass seine „blaue Koalition“ weitaus monolithischer und skrupelloser ist, als es die „orange Koalition“ war. Das neue Team versucht, das System, welches sie in der Donetzker Region schon vor geraumer Zeit etabliert haben, auf die gesamte Ukraine zu transferieren. Sie versuchen alle Macht auf sich zu konzentrieren und jeglichen Pluralismus zu eliminieren – sei es im politischen Sektor, im wirtschaftlichen oder im kulturellen oder sprachlichen. Es ist unwahrscheinlich, dass sie mit dieser Politik erfolgreich sein werden, aber die Spannungen werden ganz sicher verstärkt werden. Es könnte sogar sein, dass sie in Gewalt, vielleicht sogar Blutvergießen enden. Ich will noch einmal betonen, dass das neue Team sogar wesentlich skrupelloser („Der Zweck heiligt die Mittel“) und autoritärer („Wer Macht hat, hat das Recht“) vorgeht als Kutschmas Team.

Das klingt sehr dramatisch. Sind westliche und demokratische Werte nun wieder verloren für die Ukraine oder besteht die Chance, dass die Menschen Janukowytsch aufgrund dessen neo-sowjetischer Politik aus dem Amt jagen könnten?

Rjabtschuk:
Diese Werte sind nicht verloren, aber sie sind ernsthaft bedroht. Die Ukrainer sind enttäuscht von Juschtschenkos chaotischer Demokratie, mehr oder weniger so wie die Russen von Jelzins nutzlosem Pluralismus enttäuscht waren. Die Ukrainer bringen eine ähnliche Sehnsucht nach einer „starken Hand“ zum Ausdruck, was nichts anderes meint, als dass sie die Nase voll haben von dysfunktionalen Institutionen und sich Recht und Ordnung wünschen. Sie sind jedoch nicht bereit, ihre bürgerlichen Freiheiten für ein irgendein versprochenes Wohlbefinden einzuschränken oder gar zu opfern, zeigen Meinungsumfragen. Das mag an einem anderen historischen Erbe liegen, das die Ukraine hat. Ich meine nicht nur die westliche Ukraine, die bis zum Zweiten Weltkrieg nie Teil des russisch-sowjetischen Kulturraumes war. Ich meine auch die Zentral-Ukraine, die Teil des polnisch-litauischen Commonwealth war und die erst Ende des 18. Jahrhunderts dem Zarenreich einverleibt wurde. Die Gründe für solch eine Haltung sind wohl struktureller Art. In Russland ist der der Appeal des Autoritarismus wohl derart populär, weil er mit dem Imperium, mit imperialen Machtsreben, mit einem traditionellen, tief verwurzelten anti-westlichen Chauvinismus assoziiert wird. In der Ukraine aber ist dies nur in einem kleinen russo-sowjetophilen Teil der Bevölkerung populär. Aber selbst dieser Teil versteht, dass ihre Haltung inakzeptabel für die ukraino-philen Bevölkerungsteile ist. Niemand will blutige Konflikte hier. Ukrainer sind sehr vorsichtig mit ihrem Nationalismus, der das geteilte Land explodieren lassen könnte. Alles in allem glaube ich nicht, dass die Demokratie in der Ukraine erfolgreich eliminiert werden wird – wie in Russland oder in Belarus. Aber ich fürchte, dass Janukowytsch und seine Männer dies zumindest probieren könnten – und dann könnten die Kosten eines Widerstandes sehr hoch sein.

Wie ist die derzeitige Stimmung in der Gesellschaft?

Rjabtschuk:
Ich meine, dass die Ukrainischen Eliten wie auch die Gesellschaft sehr müde sind von all der Gesetzlosigkeit und den nicht funktionierenden Institutionen. Die Stimmen für Tyhypko und Yatseniuk im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen reflektierten das Verlangen in der Bevölkerung nach relativ neuen Gesichtern und – was noch wichtiger ist – nach Personen, die sich weniger ideologisch positionieren – als Pragmatiker und Technokraten. Was das größte Problem ist: wie will man das Spiel aber ohne einen externen Schiedsrichter verändern – ohne das, was die Akademiker „third-party enforcement“ bezeichnen? Populäres Einvernehmen reicht da einfach nicht. Erinnern Sie sich an das Finale aus Quentin Tarantinos „Reservoir Dogs“, als die drei Gangster ihre Waffen aufeinander richten. Jeder weiß, dass er zuerst vernichtet wird, wenn er als erster die Waffe senkt. Auf dem Balkan haben die EU und die Nato den Schiedsrichter gespielt – und zwar mit noch größeren Waffen. Das hat das Paradigma verändert. Der Ausweg wird als nicht leicht. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass wenn die Ukrainer einen guten Willen, Einvernehmen und eine kritische Masse, die Veränderungen will, beweisen, die EU helfen würde. Wir haben nach der „Orangen Revolution“ solch eine große Chance verloren, dass wir die nächste nicht verlieren werden. Wir müssen nur hart arbeiten, um eine neue Chance zu kreieren.

Sie als ein großer Fan der „Orangen Revolution“ müssen bitter enttäuscht sein von Janukowytschs Wahlsieg.

Rjabtschuk: Ja, natürlich ist das eine bittere Pille. Aber sie kam nicht so unerwartet. Janukowytsch hat – wenn man es genau nimmt – gar nicht gewonnen. Er hat weniger als 50 Prozent der Stimmen bekommen, und numerisch gesehen haben sogar weniger Wähler für ihn gestimmt als 2004. Aber die Führer der „orangen Revolution“ haben definitiv verloren, sie haben die Niederlage voll und ganz verdient, sie haben sogar alles dafür getan, damit Janukowytschs Comeback gelingen konnte.

Wie ist die Meinung der Ukrainisch-sprechenden Intellektuellen über Janukowytsch?


Rjabtschuk:
Tatsächlich haben alle Intellektuellen, nicht nur die ukrainisch sprechenden, eine ziemlich skeptische Meinung zu Janukowytsch. Der ist ein rauer, unkultivierter, autokratischer Mann mit einer sehr eingeschränkten, provinziellen Sichtweise. Erstens! Er und sein Team missachten ständig die Gesetze, aus Gründen der politischen Zweckmäßigkeit ignorieren sie stur die Verfassung. Man muss hier nur erwähnen, dass er die Lokalwahlen im Mai auf unbestimmte Zeit verschoben hat, obwohl die Verfassung solche Schritte gar nicht vorsieht. Außerdem hat er die Koalition und die Regierung in einer verfassungswidrigen Art und Weise gebildet, in einem Akt eines parlamentarischen coup d’etat. 2008 wurde diese Art der Koalitionsbildung vom Verfassungsgericht noch als verfassungswidrig eingestuft, nun hat das Gericht die entgegengesetzte Entscheidung getroffen – wie berichtet wurde aufgrund von Bestechungen und Einschüchterungen.
Zweitens verfolgen Janukowytsch und sein Team eine konfrontative und rachsüchtige Politik, die die Spaltung im ohnehin geteilten Land verschärft. Der Bildungsminister Dmytro Tabantschyk beispielsweise machte schon mehrfach extrem Ukrainophobe Bemerkungen, für die er sich kein einziges Mal entschuldigt hat. Der Innenminister Anatoly Mogilew meinte, dass Stalin die richtige Entscheidung getroffen habe, die Krim-Tataren nach Sibirien zu deportieren, weil sie Nazi-Kollaborateure gewesen seien. Das ganze Team scheint recht fremdenfeindlich zu sein und es ist unwahrscheinlich, dass es ein interethnisches Einvernehmen zustande bringen wird.
Und drittens wurden verschiedene Regierungsmitglieder in der Vergangenheit immer wieder der Korruption und Bestechung beschuldigt. Es gibt sehr triftige Gründe anzunehmen, dass die Fähigkeiten und der Willen des Teams, das Land zu reformieren, nicht so ausgeprägt sind wie der Appetit des Teams nach der Plünderung des Landes.

Im Westen sind viele der Meinung, dass der Sieg von Janukowytsch das endgültige Aus der „Orangen Revolution“ markiert. Ist diese Meinung korrekt?

Rjabtschuk:
Ja und nein. Eigentlich war die Niederlage der „Orangen Revolution“ bereits 2005 besiegelt, als die damalige Regierung sich davor drückte, die Institutionen zu reformieren und es der Gesellschaft nicht gelang, die Regierung zu zwingen, ihre Versprechungen einzulösen. All das, was darauf folgte, war nichts als eine Agonie der Revolution, die schließlich im Comeback von Janukowytsch mündete. Zur selben Zeit ist das Vermächtnis der Revolution aber auch tiefer und beständiger. Sie markiert auch die Entstehung von zivilgesellschaftlichen Strukturen, die zwar noch nicht reif genug sind, das System zu ändern, die aber agil genug sind, dem autoritären Druck zu widerstehen und Bürgerrechte und Freiheiten friedlich und gewaltlos zu verteidigen. Wenn wir der „Path-dependence“-Theorie glauben, dann ist die Revolution gescheitert, weil wir zu wenig Erfahrung hinsichtlich Demokratie und Konstitutionalismus hatten, und zu viel Gesetzlosigkeit und Autokratie. Aber aus gleichem Grund können wir argumentieren, dass die Ukrainer das nächste Mal erfolgreich sein werden, weil ihre Geschichte nun auch eine Erfahrung von bürgerlichem Verhalten, von gegenseitigem Vertrauen und Solidarität während der Revolution beinhaltet.

Es scheint, dass die politische Kultur der Ukraine noch immer vom „homo sowieticus“ dominiert wird. Ist ein Ende dieser Spezies absehbar?

Rjabtschuk:
Der „homo sowieticus“ wird allmählich verschwinden. Soziologische Studien beweisen das: die Menschen werden selbstbewusster, haben mehr Eigeninitiative und sind weniger paternalistisch veranlagt. Aber das Problem des niedrigen Sozialkapitals bleibt, ebenso das Problem, was Georg Schöpflin als „die osteuropäische politische Kultur“ bezeichnet hat. Demnach unterscheidet sich die Ukraine (ausgenommen vielleicht der westlich-katholische Teil) nicht wesentlich von den Staaten des Balkan, die zum selben Milieu des östlichen Christentums gehören. Wenn man von dieser Warte die politischen Kämpfe zwischen Juschtschenko-Tymoschenko auf der einen Seite betrachtet, und, sagen wir, Iliescu-Basescu oder jeden anderen schlechten osteuropäischen Politiker auf der anderen Seite, wird man nicht viele Unterschiede feststellen. Eine hässliche Rivalität innerhalb des „Orangen Lagers“ war eigentlich nichts anderes als die politischen Rivalitäten in den meisten postkommunistischen Ländern. Der wesentliche Unterschied aber war der, dass es in all diesen Ländern keine „dritte Kraft“ gab, wie sie in der Ukraine von der anti-nationalen und anti-europäischen Partei der Regionen und Kommunisten repräsentiert wurde. Deswegen konnte Russland in all diesen Ländern nicht die Rolle eines Spoilers einnehmen, so wie Russland es effektiv in der Ukraine getan hat.

In Belarus sagen viele, dass sie froh seien, nicht in einem „korrupten, chaotischen und von der Mafia regierten Land“ wie die Ukraine zu leben. Was entgegnen Sie?

Rjabtschuk: Wenn Belarussen oder Russen mit ihrer Vorstellung von Glück zufrieden sind, werde ich sie nicht überzeugen, dass sie womöglich falsch liegen. Ich persönliche meine nicht, dass ihre Länder weniger korrupt sind. Sie haben nur weniger Informationen über die Korruption in ihrem Land, weil es eine informelle Zensur gibt. Zudem haben sie eine stärker zentralistische und hierarchische Kontrolle über Korruption durch ihre autokratischen Regenten. Wenn Sie also wollen, dass ich darauf antworte, sage ich: Also, Ihr habt eine einzige Mafia mit einem Paten an der Spitze. Während wir mehrere Mafia-Strukturen haben (solange Janukowytsch kein belarussisches System in der Ukraine einführt), die miteinander um Einfluss konkurrieren und so eine Art Pluralismus in unserem Land schaffen. Das ist keine Demokratie, aber die könnte aus dieser Art von Pluralismus entstehen – wie es in Westeuropa seit dem Mittelalter passiert ist. Die Ukraine mag vielleicht chaotisch sein, aber sie hat die Chance, den demokratischen Durchbruch zu schaffen. Belarussen oder Russen haben diese Chance nicht. In diesem Zusammenhang mag ich den Irrenhaus-Vergleich, den der russische Politiker Boris Nemtzow in Bezug auf die Ukrainische Politik angestellt hat. Er sagte: „Ein Irrenhaus kann theoretisch geheilt werden, ein Friedhof nicht.“

Was könnte die kulturelle Vision für die Ukraine sein? Ein Teil des Westens und der EU zu werden vielleicht oder eine Art Brücke zwischen Ost und West?

Rjabtschuk:
Ich glaube nicht an einen „dritten Weg“, an „Neutralität“, an eine „Brücke“, an „Transmission“ oder andere hohle rhetorische Bilder, die im besten Fall „naiv“, im schlimmsten Fall „heuschlerich“ sind und den Manipulationsversuchen des Kreml genügen. Die Russen mögen sich selbst mit dieser „Dritten Weg“-Theorie täuschen – solange sie Gas und Öl haben, aber die Ukraine kann sich das nicht erlauben. Entweder machen wir eine gewaltige Anstrengung, in die „erste Welt“ zu gelangen, oder wir bleiben an der Peripherie. Für die Ukraine führt ein dritter Weg direkt in die dritte Welt. Ich würde mir wünschen, wenn unsere Politiker dies klarstellen und nicht mit unrentablen Ideen flirten würden. Es ist wahr, dass die Ukrainer zwischen dem West und Russland geteilt sind. Aber diese Wahl hat nichts mit Politik, Geopolitik oder Identität zu tun. Es geht dabei um Werte, um einen Lebensstil, um eine sichere und gute Zukunft. Das sollte klar gesagt werden. Dass Ukrainer in manchem geteilt sind, bedeutet nicht, dass wir die klare Wahl vermeiden sollen. Es bedeutet nur, dass wir manche Dinge besser erklären müssen, dass wir beharrlicher arbeiten müssen und dass wir uns schonender und vorsichtiger bewegen müssen.


Mykola Rjabtschuks Buch „Die reale und imaginierte Ukraine“ erschien 2006 bei Suhrkamp.


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